Geheimnis

22. September 2023
  • Es gab eine Zeit
  • da musste mein Geheimnis
  • um jeden Preis sicher
  • bewahrt werden
  • vor gierigen Augen
  • und druckerschwarzen Fingern
  • und spöttisch lachenden Kehlköpfen

  • einmal klopfte es
  • klopfklopfklopf
  • wer ist da: keine Antwort
  • man hustete vor meiner Tür
  • und es klopfte noch einmal
  • klopfklopfklopf

  • ich sagte: ich komme
  • gleich und liess Wasser laufen:
  • Tarngeräusche

  • und suchte
  • all das Papier zusammen
  • Verbrennen würde Asche hinterlassen
  • dachte ich
  • und begann
  • zu essen, hinunterzuschlingen
  • zu schlucken, ohne zu kauen

  • und mit vollem Mund wiederholte ich:
  • ich komme gleich ich wischte
  • mir mit dem Ärmel meines Pullovers den Mund ab
  • dann öffnete ich
  • mit einem Magen voller Worte
  • die Tür

  • ja, bitte?
Geboren 1996 in Winterthur, hat Deutsche Literaturwissenschaft, Literaturvermittlung und Anglistik an der Universität Zürich studiert und war drei Jahre lang Co-Redaktionsleiterin der Literaturzeitschrift „Denkbilder“. Sie lebt und arbeitet als Lektorin in Zürich.
Dieses Gedicht wurde von Das Narr kuratiert.

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den «Magen voller Worte»

Am Ende öffnet sich eine Tür in die Ungewissheit: Das Geheimnis des lyrischen Ichs bleibt verwahrt, schnell hinuntergeschlungen verschwindet es. Durch die Vergangenheitsform bleibt offen, ob die Geheimnisse weiterhin bewahrt werden oder mittlerweile den Weg zurück an die Oberfläche und in die Köpfe anderer Menschen gefunden haben. Larissa Waibels Gedicht wechselt konstant zwischen dem Physischen und dem Mentalen: Die Worte, die als Geheimnis bewahrt werden müssen, drängen konstant ins Physische vor, manifestieren sich in den «gierigen Augen», den «druckerschwarzen Fingern», den «lachenden Kehlköpfen» der Anderen. Das zieht sich akustisch weiter, der ungebetene Gast versucht sich die Gedichte frech zu erklopfen, erst als die Worte in ihrer physischen Form verschwinden respektive physisch nur noch im «Magen voller Worte» des lyrischen Ichs existieren, kehrt Ruhe ein. Fortan werden sie da ihr Dasein frönen können, ohne Angst vor unerwünschter Entdeckung haben zu müssen.

Durch das konstante Spiel zwischen den Räumen, in denen die Worte existieren können (dürfen), verhandelt das Gedicht zumindest implizit den Wert von Worten. Wer hat das Recht, die Worte des lyrischen Ichs zu hören, zu erfahren, in den eigenen Körper zu überführen? Damit einhergehend wird die Angst um den Kontrollverlust dieser Überführung thematisiert; was passiert, ist nicht mehr vollständig durchs lyrische Ich bestimmbar. Und so bleiben die Worte lange geheim. Ob sie es weiterhin sind, darüber schweigt das Gedicht. Es bleibt uns Leser:innen überlassen, uns mit dieser Ungewissheit zu arrangieren.

Nick Lüthi

Schreibt und spricht über Bücher aus unabhängigen Verlagen für diverse Medien. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Literaturzeitschriften.

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